Von Oberaudorf aus am Luegsteinsee entlang und noch ein gutes Stück weiter nach Süden bis zum Beginn der Mühlau zieht sich eine größernteils senkrecht abfallende Felswand hin, die Luegsteinwand. In alten Zeiten war oben auf dem Kamm ein Ausguckposten eingerichtet, der durch Feuer-und Rauchzeichen an die Auerburg Meldung machen konnte, wenn von Süden oder Osten her Gefahr im Anzug war, denn man kann von dort oben weit hinausschauen, "luegen", ins Inntal. "Luegen" heißt ja soviel wie Ausschau halten, und davon hat die Felswand ihren Namen.
Oberhalb vom Luegsteinsee - er wurde 1933 durch Männer, die sich im "freiwilligen Arbeitsdienst" zusammengeschlossen hatten, um durch nützliche Betätigung die Arbeitslosigkeit zu überbrücken, angelegt und war vorher ein sumpfiger Fleck, - da sind in der grauen Wand zwei Höhlen, eine kleine hinterm Wald am Fuße der Felswand und eine große etwa in halber Höhe derselben. In letzterer wurden eine Feuerstelle, Essensreste und Geräte unter Schutt gefunden, die belegen, daß diese geräumige Höhle um das Jahr 1300 vor Christus schon als Wohnstatt oder Unterschlupf für die damals die Wälder durchstreifenden Jäger gedient hatte. Da sie ohne Leiter unzugänglich ist, bot sie auch ausgezeichneten Schutz vor wilden Tieren oder Feinden. Warum diese Felsenhöhle "Grafenloch" heißt, das erklärt die folgende Sage:
Auf der Auerburg, die sich bis zu ihrer Schleifung durch Kitzbüheler Bergknappen nach dem verlorenen Erbfolgekrieg im Jahre 1747 auf dem Burgberg erhob, wuchs vor Zeiten ein junger Grafensohn heran. Seinen Eltern gehörte das Land am Inn mit seinen Menschen und Tieren und Behausungen. Allmählich regte sich in ihm die Lust an Besitz und an der Macht und der Trieb zu herrschen wurde übermächtig. Aber Vater und Mutter gaben das Heft nicht aus der Hand. Mit einer List lockte eines Tages der Sohn den Grafen und die Gräfin in den Bergfried, in dessen Grundmauern das Verlies eingebaut war. Er stieß seine Eltern in das Gefängnisloch hinab, versperrte die dicke Eichentüre mit schweren Riegeln und Schlössern und überließ sie ihrem schrecklichen Schicksal. Nun war der grausame Elternmörder Herr über Burg und Land und Leute.
Eines Tages kam eine Zigeunerin auf die Auerburg. Das war natürlich eine willkommene Abwechslung für die Burgbewohner in ihrem Alltagseinerlei. Die Zigeunerin gab vor, aus den Handlinien die Zukunft weissagen zu können. Jeder drängte sich herzu, von ihr einiges über das zu erfahren, was ihm bevorstünde. Der flotte junge Herr der Auerburg war selbstverständlich besonders daran interessiert. Er ließ die Weissagerin in sein Gemach kommen. Sie wußte allerlei Gutes und Erfreuliches dem jungen Grafen anzukündigen, erwähnte aber auch manches, wovor er sich hüten müsse. Nachdem sie mal aus der linken, mal aus der rechten Hand des Grafen gelesen hatte, nahm sie endlich seine beiden Hände gleichzeitig und verglich die Linien und Falten der einen Hand mit denen der anderen. Plötzlich ließ sie beide Hände los und starrte schweigend geradeaus vor sich hin. "Was ist?" fragte der Graf. Die Zigeunerin wandte ihren Blick langsam ihm zu, blickte ihn durchdringend an und schüttelte dann den Kopf. Nochmal faßte sie nach den Händen des jungen Herrn, um sie erneut zu prüfen. Dann aber gab sie seine Hände wieder frei, schüttelte erneut ihr wirres schwarzes Haar und sprach: "Nein, es ist nichts, gar nichts!". Der Graf aber war mißtrauisch geworden und herrschte sie an: "Sag die Wahrheit, Weib, die ganze Wahrheit! Ich will sie wissen!". "Ach was!" meinte die Zigeunerin. "Sterben müssen wir alle einmal. Was Besonderes ist das ja schließlich nicht". "Ich will dir diesen Silberbecher in deinen Schnappsack stecken", versprach der aufs äußerste neugierig Gewordene, "wenn du mir auch noch sagst, was du über mein Ende zu wissen glaubst". Nun ja, meinte die Wahrsagerin, es müsse ja nicht unbedingt so kommen oder Schlimmes bedeuten. Sie sehe ihn, den Grafen, mit einer Schuld beladen, und im Zusammenhang damit glaube sie zu erkennen, daß ihm von Blitzen Gefahr drohen könnte. Das aber schien dem Grafen lächerlich, denn vor Gewittern hatte er sich noch nie gefürchtet. Das andere, den Hungertod seiner Eltern, hatte er längst vergessen. Hier auf der Burg hinter ihren vier, fünf Fuß dicken Mauern, könnte ihm kein Unwetter, kein Blitz etwas anhaben.
Der Graf gab der Zigeunerin den versprochenen Lohn und ließ sie weiterziehen, nicht ohne ihr zu sagen, wie wenig ihn das störe, was sie ihm zuletzt so geheimnisvoll tuend kundgetan hatte. "Du kannst in zwanzig, fünfundzwanzig Jahren ja wieder hier vorbeischauen um zu sehen, wie gut es mir geht!" rief er der Davongehenden noch nach.
Manche Jahre zogen ins Land und den Grafen auf der Auerburg focht nichts an. Aber einige Male, wenn ein Gewitter über dem Audorfer Talkessel sich entlud, dachte er noch an die Zigeunerin und ihre Prophezeiung. Bei solchen Gelegenheiten zeigte er besonders übermütige Laune. Aber das war wohl nur nach außen hin, im Inneren fing er an, sich immer mehr zu ängstigen. Und als einmal ein besonders schweres Gewitter vorübergezogen war und ein Blitz im Eckturm der Auerburg das Holzdach zum Brennen gebracht hatte, da hielt er es auf seiner Burg nicht mehr aus. Er befahl, die Höhle in der Luegsteinwand wohnlich herzurichten. Dann verließ er die Auerburg und zog zusammen mit seinem Leibdiener dorthin.
In der Höhle in der senkrechten Luegsteinwand hauste er nun und er vermeinte, die vielleicht fünfzehn Meter dicke Schicht gewachsenen Felsens über seinem Kopf könnte niemals ein Blitz durchschlagen. In der kleineren Höhle darunter ließ er für sich und seinen Diener die Pferde unterbringen. - Noch in den Zwanzigerjahren hieß dieses Felsloch "Roßstall". - Aber nur bei allerschönstem Wetter ließ er die Pferde satteln um auszureiten, hinaus in sein Land oder hinauf auf die Auerburg, um mal nach dem Rechten zu sehen.
Es war ein herrlicher, wolkenloser Sommertag, als der gewissenlose Graf die Reitpferde vorführen ließ und einen Ausritt unternahm. Als er und sein Diener grad zu den ehemaligen "drei Gattern" bei Köln südlich von Mühlbach gekommen waren, entdeckte der Begleiter, der ja ständig den Himmel nach Wolken absuchen mußte, über der Luegsteinwand in ihrem Rücken ein Wölkchen. Sofort machten die zwei Reiter kehrt und sprengten nun im Galopp zurück. Unheimlich schnell schob sich die Wolke, immer größer und bedrohlich dunkel werdend, hinterm Berg hervor. Bald war sie ein dicker, finsterer, schwarzgrauer Knäuel mit silbernen Rändern. Die Gegend verfinsterte sich und schon prasselte der Regen in dicken Tropfen hernieder. Ganz und gar durchnäßt sprang der Graf am Fuß der Luegsteinwand vom Pferd. Er warf dem Diener die Zügel zu und ergriff die Holme der zum Unterschlupf führenden Leiter. Noch keine fünf Sprossen hatte er erklommen, da zuckte der erste Blitz aus der Gewitterwolke. Gerade über der Höhle in der Felswand fuhr er am Felsen entlang im Zickzack herunter und warf den Grafen von der Leiter. Als der Diener aus dem "Roßstall" kam, fand er seinen Herrn vom Blitz erschlagen tot am Boden liegen.
In den grauen Felsen oberhalb des Grafenloches sieht man immer noch deutlich die schwarze Zickzackspur des Blitzschlages von oben herab zum Einstieg in die Höhle ziehen. Die wahrsagende Zigeunerin hatte recht behalten: Der rächende Blitzstrahl hat den schuldbeladenen Grafen ins Jenseits geschickt, wie jener es verdient hatte.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 19
Am südöstlichen Hang des Wildbarrens liegt in etwa 700 m Höhe ein Granitblock, ein "Findling", den einst der Inngletscher aus der Schweiz hierher transportiert hat, wo die Berge ringsum aus Kalkstein aufgebaut sind. Die größte Kantenlänge des sehr unregelmäßigen Prismatoids beträgt 3,20 m, der Rauminhalt etwa 8,3 cbm und das Gewicht annähernd 25 Tonnen.
Vor vielen hundert Jahren hauste in einer geräumigen Höhle auf dem Wildbarren ein gewaltiger Riese. Darin diente ihm ein gewaltiger grauer Felsblock als Tisch. Andere kleine Felsbrocken benützte er als Stühle. Unermeßliche Reichtümer an Gold, Silber und Edelsteinen und Bergkristallen bedeckten den Boden der Höhle und waren an den Wänden derselben aufgestapelt. Zwischen fein gearbeiteten Bechern, Tellern und Schmuckstücken funkelte es nur so von Edelsteinen in den leuchtendsten Farben. Der Riese selber, Besitzer dieser Kostbarkeiten, hatte aber nichts anzuziehen. Nackt hockte er in seinem Felsenloch oder er streifte durch die Wälder auf Nahrungssuche oder er lag trag im warmen Sonnenschein vor seiner düsteren Behausung. Obgleich nur ganz selten Menschen in seiner Nähe vorbeikamen, ärgerte er sich über seine Nacktheit, und er versteckte sich scheu vor den menschlichen Bewohnern der Berge und Täler. Aber, woher sollte er schon Hemd und Hose nehmen?
Da begab es sich eines Tages, daß ein Schneider auf Stöhr ging, auf die Almen und einsamen Berghöfe, wo man für ihn schon Näh- und Flickarbeit und auch manches neu anzufertigende Kleidungsstück bereit hielt. Die Bergpfade waren von den Gewittergüssen der letzten Tage schon kaum mehr als solche zu erkennen. Darum hatte der Schneider sich ein wenig verlaufen und er stand unversehens vor dem Eingang der Riesenunterkunft. Der Höhlenbewohner hatte aber den einsamen Wanderer schon von weitem daherkommen gesehen und er schaute nun so vorsichtig beim Höhlenausgang hinaus, daß nur sein Kopf von draußen zu sehen war, um den unfreiwilligen Besucher nicht von vornherein zu verscheuchen. Denn an dessen Aufmachung und Gepäck hatte er erkannt, daß das ein wandernder Schneider sein mußte. Jeden anderen hätte er mit Gebrüll verjagt.
Mit der leisesten Stimme, deren er fähig war, redete er den erschrockenen Schneider an, freundlich und beruhigend, und er bat ihn, in seine Höhle einzutreten. Neugierig, wie nun einmal Stöhrschneider waren, die viel herumkamen, folgte dieser der Einladung und erfuhr bald vom Kummer des Riesen. Der Schneider bestärkte ihn noch in seinem Verlangen, als er sagte: "Du scheinst zwar unwahrscheinlich reich zu sein, bist aber trotzdem ein armer Tropf, denn du hast ja nicht einmal etwas anzuziehen!".
Da rückte der Riese mit seinem Anliegen heraus, der Schneider solle ihm Kleider anfertigen, daß er sich nicht vor den Menschen schämen und verstecken müsse. Es solle sein Schaden schon nicht sein, wenn er sich dieser Mühe unterziehe.
Inzwischen hatte sich der Schneider ausgiebig in der Höhle umgesehen, und was er da sah, das ließ nicht nur seine Augen, sondern auch sein Verlangen immer größer werden. In seinem Köpfchen entstand bereits ein hinterlistiger Plan. Zunächst machte er dem Riesen klar, wie schwierig es für einen Schneider wäre, für so einen Riesenkerl einen Anzug zu nähen, und welche Vorbereitungen dazu vonnöten wären und eine wie lange Zeit solche Arbeit erfordere. Der Riese sah das alles ein, war aber von seinem Wunsche natürlich nicht abzubringen, so er nun schon mal einen Schneider hier hatte.
Nun schlug der Schneider vor, daß er erst mal an seinem überdimensionalen Kunden Maß nehmen müsse. Dann wolle er ins Dorf hinab gehen, um die nötige Menge Stoff und Nähzeug zu beschaffen, und dann wolle er damit wiederkommen und all seine Kunst aufwenden, um einen hübsch angezogenen Burschen aus dem struppigen, haarigen Kerl zu machen. Dem Riesen war das recht.
Neben seinem großen steinernen Tisch setzte sich der Riese auf den Boden und der Schneider kletterte an ihm herum und er nahm Maß an dem ungewöhnlichen Auftraggeber. So kitzelig das auch für den Riesen war, wenn das kleine Schneiderlein sich durch seine wolligen Brusthaare durchwühlte, als wäre es ein Dickicht, oder wenn er wie eine Ameise auf seinen mächtigen Schultern herumkroch, er ließ es gerne über sich ergehen.
Endlich war der Schneider schwitzend mit seiner Tätigkeit zu Ende gekommen. Er versprach, am anderen Morgen wieder heraufzukommen, wenn er sich unten im Tal vorher mit allem Nötigen versorgt hätte. Dann würde er gleich mit der eigentlichen Schneiderarbeit anfangen. Der Riese war's zufrieden und ließ den Schneider ziehen.
Auf seinem Weg ins Tal spornten den Schneider der Neid auf den Riesen mit seinem ungeheueren Reichtum und die Habsucht an, sodaß er in der Hälfte der Zeit, die er bergauf gebraucht hatte, den Weg ins Dorf hinab hinter sich brachte. Dort besorgte er sich einen großen Sack, stopfte ihn voll mit dem stärksten Zwirn, den es gab, und richtete sich auch einen Ballen Tuch in leuchtend buntem Farbmuster zurecht. In aller Morgenfrühe wollte er sich diesen unter den Arm klemmen, während er den Sack auf dem Rücken schleppen würde, wenn er morgen zu dem Riesen zurückkehren würde. Müde, aber zufrieden mit sich selbst legte er sich schlafen.
Schon beim ersten Hahnenschrei sprang der Schneider am nächsten Morgen vom Strohsack, belud sich mit den bereitgestellten Sachen und stapfte den Wildbarren hinauf. In seiner Gier nach den Reichtümern des Riesen verspürte er die Last kaum und war bald am Ziel. Der Riese freute sich, als er schon so früh am Tag des Schneiders ansichtig wurde. Wie tags zuvor setzte er sich in der Höhle neben dem Steintisch auf die Erde und ließ geduldig den Handwerksmann an ihm herumhantieren. Der Schneider hatte ihm nämlich Stoff um die Schultern gehängt und der Einfachheit halber gleich am Körper des Riesen zugeschnitten und begann nun, die einzelnen Teile am Riesen so zusammenzunähen, wie sie aneinander paßten. Bei dem unerhörten Umfang des Riesen dauerte das aber Stunde um Stunde. Und weil der Riese ja vom Schneider schon so früh geweckt worden war, schlief er bald, an den steinernen Tisch gelehnt, ein. Ein lautes Schnarchen versicherte dem Schneiderlein, daß der Riese nun sehr fest schlief. Da nähte er ihn mit dem fast unzerreißbaren Zwirn an den Baumwurzeln fest, die um den steinernen Tisch herumgewachsen waren. Immer schneller setzte er Stich um Stich und zog den Zwirn um den Körper des Riesen immer wieder. Endlich glaubte der Schneider, er habe es geschafft und der Riese könne sich so schnell nicht befreien, wenn er wach würde. Jetzt leerte er den mitgebrachten Sack gänzlich aus und stopfte ihn voll mit goldenem und silbernem Geschmeide und was er nur fassen und zusammenraffen konnte. In der Eile machte er aber soviel Lärm dabei, daß der Schläfer allmählich erwachte. Gerade, als der Schneider vollbeladen aus der Höhle hinaussetzte, war der Bestohlene ganz munter geworden und erkannte sofort, daß das gierige Menschlein ihn berauben wollte. Er wollte aufspringen und mit Riesenschritten dem Dieb nachrennen, wurde aber dabei jählings von den hundertfachen Zwirnsfäden festgehalten. In seiner ungeheueren Wut nahm der Riese all seine Kraft zusammen, spannte immer wieder seine Muskeln, und knax! knax! knax! zersprangen die Fesseln. Im Nu rappelte sich der Hüne auf. Er konnte den Davonjagenden gerade noch sehen, bevor er in dem Bergwald da unten verschwinden würde. Er packte seinen Steintisch, sprang damit aus der Höhle und mit unwahrscheinlichem Schwung schleuderte er den grauen Stein dem Fliehenden nach. Der Felsblock zermalmte den diebischen Schneider und begrub ihn unter sich.
Längst ist der Riese ausgewandert und seine Höhle ist verfallen. Die Leiche des Schneiders ist vermodert. Der Riese ist weiter hineingezogen ins Hochgebirge und höher hinauf geflohen vor den Menschlein, denen er ähnlich sein wollte. Sie werden ihn an seinen weiteren Zufluchtsorten auch eingeholt haben mit ihrer Zivilisation. Vielleicht haben sie ihn auch damit zugrundegerichtet. Der "Graue Stein" aber liegt noch heute auf dem Wildbarren.
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 64
Schon seit Jahrhunderten wanderten fromme Pilger, beladen mit ihren Sorgen und Anliegen, vom Audorfer Tal am Inn hinüber übers Gebirg ins Leitzachtal nach Birkenstein, um dort in der Wallfahrtskapelle von der Gottesmutter Maria Hilfe zu erflehen oder nach Erhörung ihrer Bitten Dank abzustatten. Oft waren es einzelne Pilger, manchmal auch ein kleinerer oder größerer Wallfahrerzug, die betend den fast fünfstündigen Weg durchs Auerbachtal und übers Sudelfeld unter die Bergstiefel nahmen. Das am Wallfahrtsweg liegende Bauernanwesen Aschau am Auerbach, das schon vor mehr als siebenhundertfünfzig Jahren den Namen "Zum Datzelwurm" trug, hatte diese Bezeichnung nicht von ungefähr. Denn in der nahen Aschauer- oder Gumpei-Klamm hauste dazumal ein fürchterliches Drachenuntier, wo der Auerbach sich seit Jahrtausenden in den Fels gefressen hat. Über zwei Felsstufen stürzt er in eine nur wenige Meter breite Klamm gurgelnd, rauschend, schäumend und sprühend siebzig Meter in die Tiefe. Die vom aufstäubenden Wasser durchsetzte Luft schimmert oft in den Farben des Regenbogens. Unten aber ist es finster und feucht, und das Getöse des Wassers macht, daß man sein eigenes Wort nicht versteht.
Das war für einen Drachen der richtige Platz. Obgleich keiner, dessen er mit seinen schrecklichen Krallen habhaft werden konnte, je von dort heimgekehrt war, wußte man weit und breit von seinem Aussehen und seinem Appetit. Der Tatzelwurm hatte ein riesiges Maul, größer als das eines Krokodils, und es war mit messerscharfen, spitzen Zähnen gespickt. Aus seinen Nüstern stieß er Rauch und Feuer und sein Schuppenpanzer glänzte in allen Farben. Den nach allen Seiten sich windenden Körper trugen sechs stämmige, kurze Beine und schließlich hatte er auch noch große Fledermausflügel. Mit Vorliebe stürzte er sich auf allein dahinwandernde Pilger und verschlang sie mit Haut und Haaren. Auch hatte das Ungetüm mehrere Sennerinnen von den Almen der Umgebung verspeist.
Warum der Tatzelwurm seit langem kein Unheil mehr angerichtet hat und nie mehr gesehen wurde? Vielleicht hat der moderne Verkehr, der die Wallfahrer per Omnibus oder Privatauto nach Birkenstein bringt, ihn verschreckt?
Quelle: Einmayr Max, Inntaler Sagen, Sagen und Geschichten aus dem Inntal zwischen Kaisergebirge und Wasserburg, Oberaudorf 1988, S. 117